2023 ︎
Ein Apfel, ein singender Mund und die Bahngleise 
︎ Objekte ︎300 Stück gebackenes Brot ︎Durchmesser 8 bis 9 cm︎ Weizenteig, Brotteig, Korngebäckteig mit Mohn, Sesam, Streusaat und Roggenmehl bestreut︎ehemaliges Konzentrationslager Gusen III, Lungitz, OÖ (AT)




Ein Apfel, ein singender Mund und die Bahngleise


Objekte, 2023
300 Stück gebackenes Brot
Durchmesser 8 bis 9 cm
ehemaliges Konzentrationslager Gusen III, Lungitz, OÖ (AT)

Weizenteig, Brotteig, Korngebäckteig mit Mohn, Sesam, Streusaat und Roggenmehl bestreut
Hergestellt von den Bäckerlehrlingen der BS Linz 10 - Lebensmittel- und Grünberufe


EIN APFEL
Im Herbst 1943 sieht der zehnjährige Leo Reichl wie Häftlinge des Konzentrationslagers Gusen III wegen jeder Kleinigkeit geschlagen werden. Während er eines Tages die Kühe seiner Familie hütet, lässt er eine Handvoll Äpfel in ein Kanalisationsrohr fallen. Als er weggeht, nehmen die Häftlinge die Äpfel heraus, werden aber schnell von dem anwesenden Kapo erwischt und angeschrien, sie zurückzugeben. Später erfährt er, dass er nicht der einzige war, der Vorräte versteckt hatte.

EIN SINGENDER MUND
Zwei Jahre vor Baubeginn der NS-Großbäckerei und des Konzentrationslagers in Lungitz wandern Häftlinge 6 km von Gusen I zur Arbeit in das Lungitzer Ziegelwerk. Auf dem Weg durch das Dorf werden sie gezwungen, fröhliche Lieder zu singen, um bei den Einwohner:innen einen guten Eindruck zu hinterlassen.

DIE BAHNGLEISE
2018 wird bei Renovierungsarbeiten an den Lungitzer Bahngleisen eine Schicht aus Asche und Knochenfragmenten entdeckt. Mit dem Verdacht, dass es sich um Opfer des Nationalsozialismus handelt, werden archäologische Expert:innen der Universität Wien hinzugezogen, die bestätigen, dass es sich um menschliche Überreste aus den 1930er und 1940er Jahren handelt. Die 70 Kubikmeter Asche werden daraufhin auf ein Grundstück neben der Gedenkstätte Gusen III gebracht und dort beigesetzt.


Für das Festivals der Regionen 2023 wurden 300 Brote von den Bäckerlehrlingen der BS Linz 10 - Lebensmittel- und Grünberufe und ihrem Bäckermeister Johann Burian gebacken.

Johanna Tinzl hat die Brote am Bahnhof Lungitz verschenkt.



Dieses Projekt wurde im Rahmen von GIVEAWAYS/HIDEAWAYS, das von Antoine Turillon und Seth Weiner für das Festival der Regionen 2023 entwickelt wurde, gezeigt:

“Am 29. November 2022 erhielten wir eine Nachricht mit einer Reihe von Bildern vom Bahnhof Lungitz. Die meisten davon entsprachen dem, was man erwarten würde: leere Räume, die hier und da Spuren der Vergangenheit zeigten. Auf einem Bild jedoch waren zwanzig bis dreißig Säcke in der Ecke eines kleinen Raumes abgestellt. In der Nachricht wurde erwähnt, dass diese Säcke mit Resten von Ausgrabungen unter den Bahnschienen gefüllt waren. Bei Renovierungsarbeiten im Jahr 2018 wurde eine Ascheschicht freigelegt, von der befürchtet wurde, sie stammen aus den benachbarten Konzentrationslagern.

Wir setzten den Bahnhof in Lungitz als zentralen Punkt und begannen das Projekt mit der Suche nach einer klaren Geste: einem Motiv oder Rahmen, der die Frage aufwirft, wie Gewalt und Trauma in der unmittelbaren Umgebung des Bahnhofs Lungitz und des KZ Gusen III ausgeblendet und zugleich weitergegeben werden. Wir fragten uns, ob wir das Gebäude zum Schweigen bringen könnten, indem wir alle Fenster abdecken, bis auf ein einzelnes mit Ausblick auf das ehemalige Lager. Zudem haben wir  Künstler:innen gebeten, gemeinsam mit uns Objekte und Erfahrungen zu entwickeln und zu verschenken und lokale Holocaust-Expert:innen gebeten, Führungen zu veranstalten, um gemeinsam zu erforschen, wie unterschiedliche Zugänge zu Zeit und Identität mit den Bewohner*innen und Reisenden in Verbindung kommen können.

Es ist seltsam, an einem Projekt wie diesem zu arbeiten, im Rahmen eines Festivals, das die Region feiern soll. Im Laufe des Prozesses haben wir uns viel darüber unterhalten, dass Erinnern etwas aktives ist, etwas das kontinuierlich bearbeitet und erneuert werden muss. Wie es immer wieder weitergegeben werden muss, um sichtbar zu bleiben. Wir haben über die Rolle von zeitgenössischer Kunst und die verschiedenen Formen von Trauer und Freude gesprochen, über die Traurigkeit des Humors und die Kommerzialisierung von Gedenken.

Während die Vergangenheit die Gegenwart einholt, fahren die Züge jeden Tag mehr oder weniger pünktlich ein und ab. Der Bahnhof Lungitz steht schon seit einiger Zeit leer und wartet auf seinen Abriss, um als eines der letzten verbliebenen architektonischen Zeugnisse zu einem Park and Ride umgestaltet zu werden. Als Künstler:innen sind wir uns der Unmöglichkeit eine angemessene Form zu finden, um das Ausmaß des Verlustes auszudrücken der hier geschehen ist, bewusst, dennoch ist es uns ein Bedürfnis, es zu versuchen.” I



Indexfoto + Fotos 2, 4, 5, 6: © Flora Fellner


Foto 1: © eSeL